Page 10 - Luetjenburg_Erleben_03_2021
P. 10
HOSPIZLICHE HALTUNG
IN GRENZSITUATIONEN
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit seinem Urteil vom
26.02.2020 den § 217 StGB für nichtig erklärt, der die geschäftsmä-
ßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe gestellt hatte. Daraus
ist nicht abzuleiten, dass sich für Einrichtungen und Dienste der stehendes Gefühl des Ausgeliefertseins und die Sorge vor einem qualvollen
Hospizarbeit und Palliativversorgung ein neuer Auftrag dahingehend Verlauf am Lebensende. Im Gegensatz dazu besann sich die Hospizbewegung
darauf, in dieser existenziellen Notlage die grundlegenden Bedürfnisse des
ergibt, die Beihilfe zur Selbsttötung zu organisieren oder selbst anzu- Menschen in allen Dimensionen in den Blick zu nehmen, ihm auf Augenhöhe
bieten. Das BVerfG hat in seiner Urteilsbegründung ausgeführt, dass zu begegnen und eine umfassende und dabei angemessene medizinische, pfle-
es eine Verpflichtung zur Beihilfe zur Selbsttötung nicht geben darf. gerische, psychosoziale und spirituelle Betreuung anzubieten. Der Verlauf des
Dennoch hat die Entscheidung des Gerichts auch eine Auswirkung für Lebens konnte so zu seinem natürlichen Ende finden, ohne künstlich verlängert
die Hospizarbeit und Palliativversorgung in Deutschland, vor allem im zu werden, aber auch ohne dieses willentlich und in Abhängigkeiten von Dritten
durch einen assistierten Suizid oder eine Tötung auf Verlangen zu verkürzen.
Hinblick auf die Diskussion in der Gesellschaft zu der Frage, was unter Daran hat sich bis heute nichts geändert.
einem würdigen Sterben zu verstehen ist.
Die Hospizarbeit vermag in der Begleitung Sterbender und der Unterstützung
der Zugehörigen auf einen Erfahrungsschatz zurückgreifen, der sich daraus
Der Wunsch von Betroffenen nach einer vorzeitigen Beendigung des Lebens speist, allen Menschen in ihrer Einzigartigkeit und ihren unterschiedlichen Le-
ist nicht erst mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts entstanden. Von bensgeschichten, Leidenszuständen vorurteilsfrei und mit der notwendigen
schwerstkranken und sterbenden Menschen, die von den ambulanten Diensten Zeit zu begegnen. Dazu gehört Leiden und Konflikte gemeinsam auszuhalten,
und stationären Einrichtungen begleitet und versorgt wurden, wurde dieser ohne dabei aus falschverstandener Fürsorge aufzutreten bzw. vorzugeben, auf
Wunsch immer mal wieder geäußert, auch wenn dies nicht sehr häufig vorkam. alle Fragen eine schnelle oder gar befriedigende Antwort geben zu können.
Hinter dem einzelnen Sterbewunsch stehen in der Regel vielfältige Gründe. Oft Dies gilt auch für geäußerte Suizidwünsche, deren Ambivalenz und Kontextab-
wird die Angst vor dem Alleinsein, die Angst vor Schmerzen oder die Angst, an- hängigkeit in einem verantwortungsvollen Umgang nicht außer Acht gelassen
deren zur Last zu fallen in diesem Zusammenhang genannt. Deshalb ist es das werden dürfen. Suizidwünsche sind selten „schwarz-weiß“, sondern lassen eine
Ziel der Hospizarbeit und Palliativversorgung, die Rahmenbedingungen so zu Vielzahl von Deutungen in Graustufen zu, deren Schattierungen wahrgenom-
verändern, dass dieser Wunsch nicht mehr vorkommt und hinter neu gewon- men und dementsprechend differenziert begleitet werden sollten. Unkritisch
nenen Perspektiven zurücktritt. eine Freiverantwortlichkeit“ zu unterstellen und einen Handlungsauftrag zur
Um den Dialog zu fördern und eine hospizliche Haltung in Grenzsituationen Realisierung der Lebensbeendigung abzuleiten, wird der Komplexität und Wi-
zu entwickeln, hat eine Arbeitsgruppe innerhalb des DHPV ein Dialogpapier dersprüchlichkeit des Menschen nicht gerecht. Dies betrifft insbesondere die
entwickelt und den Mitgliedsorganisationen auf der Landesebene sowie den schwer erkrankten Menschen, die in Folge der Erkrankung und in der Ausein-
überregionalen Organisationen, aber auch den Hospiz- und Palliativdiensten andersetzung in existentielle (Sinn- und Lebens-) Krisen geraten können. Durch
und -einrichtungen des DHPV zur Verfügung gestellt. Der neue Teil II des Di- die multiprofessionelle und auf Empathie und Verständnis beruhende Beglei-
alogpapiers geht auf die Bedeutung des Urteils für die Gesellschaft ein sowie tung ist es häufig möglich, gemeinsam mit der suizidwilligen Person die Gründe
wichtige Fragestellungen zur Suizidassistenz. Dieser Abschnitt wurde durch für die Suizidwünsche herauszuarbeiten und Lösungswege zu finden, die die
Prof. Reimer Gronemeyer und Prof. Andreas Heller erarbeitet, die Mitglieder Lebensqualität entscheidend verbessern und den Wunsch auf vorzeitige Been-
des wissenschaftlichen Beirats des DHPV sind. digung des Lebens in den Hintergrund treten lassen.
Hospizliche Anliegen der Begleitung Angesichts dessen trägt auch der Staat bzw. die Gesellschaft als Ganzes die
Es war die Hospizbewegung, die sich seit ihren Anfängen für die Beachtung Verantwortung dafür, den betroffenen Menschen durch ein flächendeckendes
der Selbstbestimmung des Menschen und die Gestaltung der letzten Lebens- Angebot der Suizidprävention weitere Handlungsoptionen zu eröffnen und
phase in Würde und nach den Vorstellungen des Betroffenen eingesetzt hat. damit dem Selbstbestimmungsrecht gerade auch vulnerabler Personengrup-
Die grundlegenden Veränderungen der Sterbebedingungen, die den Zeitpunkt pen Geltung zu erschaffen. Die hospizliche Erfahrung lehrt uns, dass selbst bei
des Todes mit Hilfe neuer technischer und pharmakologischer Möglichkeiten Menschen, bei denen auf den ersten Blick eine vermeintlich selbstbestimmte
hinauszuzögern vermochten, verstärkten bei den Menschen ein ohnehin be- und frei verantwortliche Entscheidungsfindung relevante Informationen den
Betroffenen entweder unbekannt sind oder ihnen unzutreffend vermittelt
wurden. Auf der Basis fehlender oder falscher Informationen kann eine selbst-
9. Oktober 2021 bestimmte und freiverantwortliche Entscheidung jedoch mit guten Gründen
angezweifelt werden. Dabei können hier in vielen Fällen durch gute palliative
Welthospiztag und hospizliche Begleitung Alternativen aufgezeigt werden, die ein friedvolles
Sterben ermöglichen.
In der gesellschaftlichen Debatte und in dem individualistisch geprägten Rin-
„LEBEN! gen um ein selbstbestimmtes Sterben am Lebensende bleibt dabei bisweilen
auch die Auswirkung des assistierten Suizides auf die Zugehörigen, die „Durch-
Bis zum Schluss” führenden“ und letztlich auch auf die Gesellschaft insgesamt unerwähnt oder
wird als zu vernachlässigende Folgewirkung klein geredet. Die Hospizarbeit
hat ihre Aufgabe stets auch darin gesehen, das Familiensystem sowie die Be-
dürfnisse der Zugehörigen, deren Belastung sowie deren Trauer in den Blick zu
nehmen und hier adäquate Unterstützung anzubieten.
Die Hospizbewegung hat somit mit ihrer auf Achtsamkeit und Wertschätzung
beruhenden „Sorgekultur“ nicht nur Relevanz im Kontext des Sterbens, son-
dern auch das Potenzial einer Vorbildfunktion für das gesamtgesellschaftliche
Miteinander. Gerade auch das hospizliche Ehrenamt ist Teil dieser Gesellschaft
und verbindet mit dem sichtbaren Zeichen einer gelebten Solidarität die Hoff-
nung eines differenzierten, weniger defizitorientierten Blicks auf den letzten
Abschnitt des Lebens. Bisweilen erscheint die Hospizarbeit in ihrer gegen die
Selbstoptimierung ausgerichteten Begleitung, die sich der Planbarkeit und Effi-
zienz widersetzt, etwas aus der Zeit gefallen. Aber vielleicht liegt gerade darin
ihre Stärke und Innovationskraft für die Zukunft.
Ute Dittmer, 1. Vorsitzende
Ouelle: Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e.V. (DHPV) – Dialogpapier 2.
überarbeitete Auflage – Erscheinungsjahr 2021.Auszugsweise – Ute Dittmer,
Vorsitzende Hospizverein Lütjenburg e.V.
10 luetjenburg-erleben.de